(Eskimo-Märchen)
Eine alte Frau lebte mit ihrem Enkel in einer kleinen Hütte. Da sie weder Gatten noch Sohn hatte, die für sie und den Knaben sorgten, war sie sehr arm. Die Kleider des Knaben waren daher nur aus Bälgen von Vögeln gemacht, die sie in Schlingen fing. Wenn der Knabe aus der Hütte gehen und sich zu seinen Gespielen gesellen wollte, lachten die Leute über ihn und zerrissen ihm sein Kleid. Nur ein Mann, namens Kiviung, war freundlich zu dem Jungen; er konnte ihn aber nicht vor den anderen schützen. So kam denn der Ärmste oft schreiend und weinend zu seiner Großmutter, die ihn immer tröstete und ihm jedes Mal ein neues Kleid machte. Sie bat die Männer, sie möchten ihn doch endlich in Ruhe lassen und ihm nicht mehr seine Sachen zerreißen, aber sie hörten nicht auf sie. Schließlich wurde sie ärgerlich und schwor, Rache an seinen Quälgeistern zu nehmen. Das konnte sie leicht bewerkstelligen, da sie Angakoq1 war.
Sie befahl also ihrem Enkel, in eine Pfütze zu treten, die auf dem Fußboden ihrer Hütte war, wobei sie ihm erzählte, was sich zutragen würde und wie er sich dabei zu benehmen hätte. Sobald er in dem Wasser stand, öffnete sich die Erde, und er versank, um im nächsten Augenblick nahe am Ufer als ein Robbenjährling mit schönem Fell wieder aufzutauchen und munter umherzuschwimmen.
Kaum hatten die Männer den Seehund bemerkt, als sie auch schon zu ihren Kajaks eilten, begierig, das schöne Tier zu erlegen. Aber der verwandelte Knabe schwamm rasch davon, wie ihn seine Großmutter gelehrt hatte, und die Männer nahmen die Verfolgung auf. So oft er emporstieg, um Atem zu schöpfen, trug er immer Sorge, hinter den Kajaks zum Vorschein zu kommen, da die Männer mit ihren Harpunen ihm dort nicht beikommen konnten; dort plätscherte er umher, um sie aufmerksam zu machen und anzulocken. Bevor aber noch jemand seinen Kajak wenden konnte, war er schon wieder untergetaucht und davongeschwommen. Die Männer waren so versessen auf das Jagdtier, dass sie gar nicht gewahr wurden, wie weit sie schon von der Küste weg waren und dass das Land bereits ihren Augen entschwunden war.
Plötzlich erhob sich ein Sturm; das Meer schäumte und raste, und die Wellen zertrümmerten die gebrechlichen Fahrzeuge oder brachten sie zum Kentern. Als alle ertrunken zu sein schienen, verwandelte der Seehund sich wieder in den Knaben, der übers Wasser nach Hause ging, ohne auch nur seine Füße zu netzen. Jetzt war niemand mehr da, der ihm seine Kleider zerriss, denn alle seine Quälgeister waren tot.
Nur Kiviung war Wind und Wellen entronnen; denn er war selbst ein großer Angakoq. Tapfer kämpfte er mit seinem Kajak gegen die wilde See, aber der Sturm ließ nicht nach. Nachdem er viele Tage auf dem Meere umhergetrieben war, sah er plötzlich eine dunkle Masse im Nebel emporsteigen. Seine Hoffnung belebte sich, und angestrengt ruderte er vorwärts, um das mutmaßliche Land zu erreichen. Doch je näher er kam, desto wilder wurden die Wogen, und er sah, dass er die wilde, schwarze See mit ihren kochenden Strudeln für Land gehalten hatte. Kaum entronnen, trieb er wieder tagelang umher, ohne dass der Sturm sich legte und er Land gesehen hätte. Wieder erhob sich eine dunkle Masse im Nebel, und wieder sah er sich betrogen, denn ein neuer Meereswirbel hatte die See an jener Stelle zu riesigen Wellen aufgetürmt.
Schließlich aber ließ der Sturm nach, die See beruhigte sich, und in weiter Ferne erblickte er Land. Allmählich kam er näher und erspähte, als er der Küste folgte, ein Steinhaus, in dem Licht brannte. Er landete und trat ein. Niemand war im Hause mit Ausnahme einer alten Frau namens Arnaitiang. Sie empfing ihn freundlich und sagte, er solle sich seine durchnässten Stiefel, Socken und Strümpfe ausziehen; er tat es gern und trocknete sie auf dem Rahmen, der über der Lampe hing. Darauf ging sie hinaus, um Feuer anzumachen und eine gute Mahlzeit zu kochen. Als die Strümpfe trocken waren, wollte Kiviung sie vom Rahmen herabnehmen, um sie wieder anzuziehen; sobald er aber seine Hand danach ausstreckte, fuhr der Trockenrahmen in die Höhe, bis er ihn nicht mehr erlangen konnte. nachdem er mehrere vergebliche Versuche gemacht hatte, rief er Arnaitiang und bat sie, ihm die Strümpfe wiederzugeben. Sie erwiderte: "Nimm sie dir doch selbst, da sind sie!" und ging hinaus. In Wahrheit war sie nämlich ein ganz schlechtes Weib und hatte vor, Kiviung zu fressen.
Ob Kiviung dem alten Weib entrinnen kann, könnt Ihr demnächst an dieser Stelle lesen!