Klein-Wölfchen

 

(von Johann J Rudolph)

Es war einmal ein kleiner Junge, der nach seinem Paten den Namen Wolfgang erhalten hatte. Da aber seinen Spielkameraden dieser Name nicht gefiel, wurde er nur Klein-Wölfchen genannt.

Als Klein-Wölfchen eines Tages den Vater und kurze Zeit darauf auch die Mutter verlor, machte er sich auf und ging in die Fremde, da er niemandem in seinem Heimatdorf zur Last fallen wollte. Das einzige Erbe, das ihm seine Eltern hinterlassen hatten, war eine kleine Geige; die nahm er mit sich und spielte darauf, wohin er kam, und spielte so wundersam, daß ihn die Leute gern aufnahmen und ihm zu essen gaben.

 

Eines Tages ging er durch ein grünes Gehölz, das von dem Gesang der Vögel erfüllt war. Klein-Wölfchen gefiel das Zwitschern so sehr, daß er sich niedersetzte, seine Geige stimmte und zu spielen begann, was ihm gerade einfiel. Zwei Stare, die auf einem großen Eichenbaum saßen, lauschten lange Zeit den lieblichen Weisen. Doch plötzlich fingen sie heftig miteinander zu streiten an, da jeder dem anderen ein­reden wollte, die Töne der Geige seien seine Stimme gewesen. Schließ­lich fielen sie sogar übereinander her und bissen und kratzten, bis einer mit gebrochenem Flügel neben Klein-Wölfchen zu Boden fiel.

Klein-Wölfchen nahm ihn vom Boden auf und untersuchte ihn be­hutsam. Der Vogel schrie erst laut vor Angst, bald aber blieb er still und zufrieden in der warmen Kinderhand liegen. Der Knabe wartete, bis das heftige Herzpochen des Stares ruhiger geworden war, dann nahm er zwei Hölzchen vom Boden auf, legte eines über und eines unter den gebrochenen Flügel und band sie mit einer Waldbinse zusammen. Nach einigen Stunden Rast setzte er sich den Star auf die Schulter, nahm seine kleine Geige und wanderte wieder weiter.

Der Star, der noch nie aus dem Wald herausgekommen war, staunte sehr, als er die weiten Ährenfelder erblickte, an denen sie vorbei kamen, und die Schnitter arbeiten sah. Es war nämlich gerade Erntezeit. Klein­-Wölfchen stimmte wieder seine Geige und begann ein lustiges Lied zu spielen. Das gefiel den Schnittern so gut, daß sie ihm ein großes Butterbrot schenkten. Klein-Wölfchen brach ein Stück ab, reichte es dem Vogel und sagte:

»Da, Matz, du sollst auch etwas davon haben! Das schmeckt gut!«

»Schmeckt gut!« gab der Star zur Antwort.

Klein -Wölfchen wußte nicht, ob er recht gehört hatte, daß der Vogel auch sprechen könne, brach daher noch ein Stück ab und sagte:

»Da hast du noch mehr!«

»Noch mehr! Noch mehr!« rief der Star und versuchte vor Freude mit den Flügeln zu schlagen.

»Ei, du unverschämter Geselle!« lachte Klein-Wölfchen. »Wenn du alles willst, bleibt ja für mich nichts übrig!« Diese Worte waren aber nicht böse gemeint, denn der Knabe freute sich sehr, daß er nun einen Wandergenossen hatte, mit dem er sprechen konnte. Er dankte den Schnittern herzlich für das Butterbrot und zog seine Straße weiter.

Er war jedoch kaum eine Viertelstunde gegangen, als ihm ein Mann entgegenkam, der immerzu rief:  »Meine Schafe! Meine Schafe ! «

»Was fehlt Euch denn ?« fragte Klein -Wölfchen voll Anteilnahme. »Wo sind denn Eure Schafe ?«

»Wo sie sind? Fort sind sie! Der Wolf hat sie geholt! Ich hatte einen kleinen Jungen, der sie mir hütete; aber er war so leichtsinnig und folgte mir nicht und trieb die Herde nahe an den Wald. Da kam der Wolf und holte die Hälfte der Tiere!« Bevor Klein-Wölfchen ein Wort sagen konnte, rief der Star als Ant­wort:

»Nimm doch einen Wolf zum Schäfer, so werden dir keine Schafe mehr gefressen werden!

»Was sagst du?« rief der Mann erbost. »Du willst mich im Unglück noch verspotten? Ich soll einen Wolf zum Schäfer nehmen? Hieße das nicht, den Bock zum Gärtner machen ?«

»Erzürnt Euch nicht so sehr«, sagte Klein-Wölfchen, »Er meint es gut mit Euch und mit mir. Er will nämlich damit nur sagen, ihr solltet mich zum Schäfer nehmen, weil ich Wölfchen heiße.«

Da besann sich der Mann eine Weile, dann sagte er:

»Also gut, komm mit mir, du sollst mein Schäfer sein! Und er nahm ihn mit nach Hause und versprach ihm außer Essen, Trinken und Klei­dung noch sechs Heller Schäferlohn.

Klein-Wölfchen versah sein Amt gewissenhaft. Am Tage führte er die Schafe auf einen Berg, und des Nachts schlief er in einem Häuschen, das auf einen Karren gebaut war und außer der Tür noch ein kleines Fenster hatte. Aus diesem guckte er jeden Morgen heraus, um zu sehen, wie die Sonne stehe und ob schon des Schäfers Töchterlein, die kleine Rinka, komme und ihm sein Frühstück bringe. Für ein kleines Weilchen setzten sich dann die beiden Kinder zusammen und plauderten über allerlei, was ihnen gerade einfiel.

Eines Tages, als sie wieder beisammensaßen, kam eine alte Frau in einem schmutzigen, zerrissenen Kleid; tief gebückt humpelte sie an einem Stock einher. Auf dem Kopf trug sie einen Strohhut, den sie mit einer Hand fest zusammenhielt, so daß man ihr Gesicht gar nicht sehen konnte; nur ein Paar feurige Augen blitzten unter dem Hut hervor. Sie grüßte die Kinder mit tiefer, rauher Stimme und setzte sich zu ihnen ins Gras.

»Seid doch so gut«, sagte sie, »und ruft mir euren Herrn; ich will unterdessen auf die Schafe achtgeben.«

Klein-Wölfchen aber antwortete:

»Das kann ich nicht, ich darf meine Schafe nicht allein lassen. Wenn Rinka jedoch den Herrn holen will, so mag sie es tun!«

Da ging Rinka den Berg hinab, und die alte Frau sah ihr nach, bis sie ganz unten angelangt war. Dann schlug sie auf einmal den Mantel aus­einander, riß ihren Strohhut vom Kopf, und statt einer alten Frau stand ein grimmiger Wolf da, der den Knaben zerreißen wollte.

 

Klein-Wölfchen aber schlüpfte schnell wie der Blitz in sein Häuschen und schloß die Tür hinter sich fest zu. Da spannte sich der Wolf vor den Karren und wollte ihn tiefer in den Wald hineinziehen. Doch der Star, der alles mit angesehen hatte, begann plötzlich mit kräftiger Stimme zu schreien:

»Was gibt es denn da? Was gibt es denn da ?«

Schnell ließ der Wolf den Wagen stehen und lief davon. Der Star aber flog ihm nach und schrie weiter: »Räuber! Mörder! Räuber! Mörder!«, so daß der Wolf vor Angst nicht mehr wußte, wohin er sich wenden sollte. Durch das Geschrei waren die Bauern auf den Feldern aufmerksam geworden, liefen mit ihren Sensen und Gabeln herbei und schlugen den Wolf tot.

Unterdessen war Rinkas Vater gekommen. Als er die herumliegenden Kleider und die vielen Menschen sah, glaubte er, der Wolf habe seine Großmutter zerrissen. Doch schnell erzählte man ihm, was sich zu­getragen hatte, und nun wußte er, daß der Wolf nur ihre Kleider ge­nommen hatte, die auf dem Hausdach zum Lüften aufgehängt worden waren, um in dieser Verkleidung besser an die Kinder herankommen zu können. Er packte den toten Wolf, zog ihm das Fell ab, stopfte es mit Stroh und dürrem Laub aus und legte das Ungetüm an einer großen Kette vor die Haustür. Seither getrauten sich keine Diebe mehr an das Haus heran, denn sie hielten den Wolf für lebendig und liefen schnell davon, sooft sie ihn erblickten.

Als Klein-Wölfchen ein Jahr lang als Schäfer treu gedient hatte, sagte er zu seinem Herrn:

»Geht mir meinen Lohn, ich will weiter in die Welt ziehen!«

Da der Mann mit Klein-Wölfchen sehr zufrieden gewesen war, schenkte er ihm außer den sechs Hellen noch den Schäferkarren und einen Schafbock mit großen krummen Hörnern, den Wölfchen vor das Wägelchen spannte.

Rinka begleitete ihn noch eine gute Strecke, als er wegfuhr, und zum Abschied schenkte sie ihm ein Heideröslein. Sie sagte ihm dabei, solange das Heideröslein blühe, solange lebe auch sie; fange es aber zu welken an, so sei sie krank; und fielen gar die Blätter ab, so sei sie gewiß tot.

Klein-Wölfchen steckte das Heideröslein auf seinen Hut, winkte Rinka noch einmal zu und trieb dann den Schafbock mit einem langen Stecken an. So zog er weiter in die Welt hinaus.

Als er sieben Tage unterwegs war, kam er zu einer großen Wiese, die von dichtem Gehölz umgeben war. Aus einem Felsen rieselte eine Quelle, die sich als kleines Bächlein durch die Wiese schlängelte.

Klein-Wölfchen spannte seinen Schafbock aus und ließ ihn auf dem üppigen Gras weiden; er selbst aber legte sich in sein Häuschen und träumte von vergangenen Tagen und von der kleinen Rinka, die er so liebgewonnen und die er doch wieder verlassen hatte, da die Sehnsucht nach der weiten Welt in ihm zu groß gewesen war.

Wie er aber so träumte, kamen drei Bergfeen, die eine Höhle unter der Erde bewohnten. Klein-Wölfchen gefiel ihnen so gut, daß sie ihn zu entführen beschlossen. Die eine haschte schnell nach dem Star und hielt ihm den Schnabel zu, damit er nicht schreien konnte, die beiden anderen aber zogen leise den Karren fort und brachten ihn in die Höhle hinein bis vor ihr Haus, wo silberne und goldene Lämmer weideten. Dort stellten sie sich hinter einen großen Baum und begannen eine süße Melodie zu singen. Darüber erwachte der Knabe, kroch aus seinem Häuschen und sah verwundert um sich. Er suchte seinen Schafbock, doch der war verschwunden; er rief nach seinem Star, aber auch dieser war nicht da. Nun wollte er herausfinden, woher der Gesang gekommen war, den er gehört hatte, doch er konnte nichts Auffallendes bemerken. Da traten endlich die drei Schwestern hervor.

Als der Knabe sie sah, nahm er schnell seinen Hut ab und stand be­scheiden vor ihnen.

»Gefällt es dir hier ?« fragte die eine.

»0 ja«, erwiderte Klein-Wölfchen und schaute dabei verlegen um sich. »Aber ich sehe keine Sonne am Himmel, und doch ist es so hell hier!«

»Das ist bei uns eben so«, sagten die Bergfeen und wiesen dabei zur Decke des Gewölbes empor, das aus himmelblauen Kristallen erbaut war.

Nachdem der Knabe sich genau umgesehen hatte, fragten sie ihn, ob er bei ihnen bleiben und ihre Gold- und Silberschafe hüten wolle. Klein-Wölfchen sah verlegen auf seinen Hut nieder, den er noch immer in der Hand hielt, und wußte nicht, was er antworten sollte. Da fiel sein Blick auf das Heideröslein, das Rinka ihm geschenkt hatte, er hob den Kopf und sagte mit mutiger, heller Stimme zu den drei Schwestern:

»Ich würde gern bei euch bleiben und eure Schafe hüten, doch ich bin schon einmal ein Schäfer gewesen und habe eine liebe Freundin gehabt und habe sie trotzdem verlassen, weil mich die Sehnsucht in die weite Welt hinauszog. Wenn sie nun erführe, daß ich zu euch gegangen und bei euch geblieben bin, wurde sie sich gewiß kränken. Da will ich doch lieber wieder weiterwandern.«

Die Feen achteten Klein-Wölfchens Geständnis; sie wollten ihn daher nicht mehr zwingen bei ihnen zu bleiben. Sie brachten ihm köstliche Speisen, gaben ihm einen süßen Trank, und als Klein-Wölfchen darauf einschlief, legten sie ihn in sein Bettchen und führten ihn wieder auf die Wiese, auf der er Rast gemacht hatte. Sie selbst aber huschten schnell in ihre Höhle, die sich sogleich hinter ihnen schloß, so daß niemand mehr hätte sehen können, wo eine gewesen war.

Kurz darauf wachte Klein-Wölfchen auf.

»Das war ein sonderbarer Traum«, meinte er. »Ich dachte wahr­haftig in einem Zauberlande gewesen zu sein und goldene und silberne Schafe gesehen zu haben. Jetzt sehe ich aber nichts als meinen alten Schafbock und meinen Starmatz.«

»Du magst wohl geträumt haben, in einem Zauberland gewesen zu sein«, sagte Matz. »Mir aber hat eine der Feen die Kehle zugedrückt, als ich dich warnen wollte. Mir tut jetzt noch der ganze Hals davon weh.« Und er erzählte Klein-Wölfchen, was sich zugetragen hatte.

Der Knabe hörte dem Vogel nachdenklich zu, dann sagte er: »Es ist ganz gut so, wie es gekommen ist. Denn wenn ich schon Schafe hüten muß, dann will ich es nur mit Rinka tun.« Und er stand auf, spannte seinen Schafbock wieder vor den Karren und fuhr weiter.

Nicht lange danach kam er mit seinem Gespann an einen Platz, von dem aus drei Wege nach drei verschiedenen Richtungen gingen. Als er eine Weile überlegte, welchen er einschlagen sollte, flog der Star voraus und rief: »Die Mittelstraße ist die beste!«

Da fuhr ihm Klein-Wölfchen nach und kam zu einem Haus, in dem ein kleines, wunderliches Männchen wohnte. Diesem waren beide Beine vom Knie an in eines zusammengewachsen, so daß es nicht gehen, sondern nur hüpfen konnte. Es hüpfte jedoch so schnell, daß niemand imstande war, es einzuholen. Wenn ein Fremder des Weges kam, mußte er mit ihm um die Wette laufen. Kam der Fremde aber später ans Ziel als das Männchen, so mußte er ihm ein ganzes Jahr lang dienen und seinen Schuh flicken; denn durch das viele Hüpfen zerriß es jeden Tag seinen großen Schuh.

Als nun Klein-Wölfchen an dem Hause des Männchens vorbeifuhr, hüpfte dieses schnell heraus und rief:

»Steig nur aus! Steig nur aus! Lauf mit mir um die Wette!«

»Hier bin ich!« antwortete der Star.

Da meinte das Männlein, Klein-Wölfchen stünde hinter dem Hause und hüpfte schnell zu ihm hin. Der Star aber flog nach vorne und rief wieder:

»Hier bin ich!«

Und wieder hüpfte das Männchen ihm nach, doch der Star war stets schneller, so daß das Männchen, schließlich vor Müdigkeit in einen Graben fiel. Da trieb Klein-Wölfchen seinen Schafbock an und fuhr eilends davon.

Bald darauf kam er an ein großes Wasser, das er gern übersetzt hätte, denn er sah am anderen Ufer eine schöne Stadt liegen, in der wie er gehört hatte — ein mächtiger König herrschen sollte. Doch er fürchtete, nicht so viel Geld zu haben, um für sich, sein Wägelchen, den Schaf­bock und den Star die Überfahrt bezahlen zu können. Darum bat er:

»Liebe Schiffer, wollt ihr mich nicht umsonst hinüberfahren ?«

 

»Nein, das können wir nicht«, antworteten die Männer mürrisch. »Nun, dann will ich euch einen Vorschlag machen«, begann Klein­Wölfchen von neuem. »Ich werde euch ein Rätsel aufgeben. Könnt ihr es lösen, so sollen mein Schafbock und mein Karren euch gehören, könnt ihr es aber nicht, so müßt ihr mich umsonst über das Wasser rudern.«

»Gut, das soll gelten!« sagten die Schiffer, ließen Klein-Wölfchen mit seinem Karren und seinem Schafbock einsteigen, banden das Boot vom Ufer los und trieben es in den Fluß hinaus. »Nun sag uns dein Rätsel«, forderten sie ihn auf.

Klein-Wölfchen begann hin und her zu überlegen, doch es wollte ihm kein Rätsel einfallen. Sie waren schon in der Mitte des Wassers angelangt, und noch immer wußte er nicht, was er den Männern sagen sollte. Er fürchtete schon, sein Wägelchen und seinen Schafbock als Fahrlohn geben zu müssen, als er plötzlich einige Fischerknaben sah, die am Ufer saßen und ihre Netze ausgespannt hatten. Sie suchten dabei ihre Kleider ab, die voll Ameisen zu sein schienen. Da wandte sich Klein-Wölfchen schnell zu den Schiffern um und sagte:

»Nun hört gut zu! Ich will jetzt mein Rätsel aufgeben: Es saßen drei Fischer am Ufer eines Flusses. Sie hatten ihre Netze ausgespannt. Was sie jedoch fingen, das warfen sie von sich, und was sie nicht fingen, das nahmen sie mit nach Hause. Könnt ihr mir nun sagen, was das war?«

Da sannen die Schiffer hin und her, doch keinem gelang es, dieses Rätsel zu lösen, denn es war ihnen noch nie vorgekommen, daß man etwas mit nach Hause nehmen könne, was man gar nicht gefangen hatte.

»Hör du !« sagten sie zu dem Knaben. »Willst du uns vielleicht zum besten halten? Das gibt es doch gar nicht, was du sagst.«

»0 freilich!« erwiderte Klein -Wölfchen und lachte vor Freude, daß er ihnen mit seinem Rätsel so viel zu schaffen machte. »Soll ich es euch sagen? Es ist ganz einfach. Die drei Fischer waren vorher auf einem Ameisenhaufen gesessen und mußten nun die Ameisen von ihren Klei­dern lesen. Die sie fingen, warfen sie fort, die sie aber nicht fangen konnten, mußten sie natürlich mit nach Hause nehmen.«

Da sahen die Schiffer, welch listiger Bursche Klein-Wölfchen war, und ließen ihn, wie vereinbart, mit seinem Schafbock und seinem Karren zur Königsstadt weiterziehen.

Als Klein-Wölfchen zum großen Stadttor kam, ritt gerade der König mit seinem Gefolge aus. Der König saß auf einem prächtigen Pferd, das silberne Hufeisen mit goldenen Nägeln trug. Klein-Wölfchen sprang schnell von seinem Karren herab, zog höflich den Hut und stellte sich bescheiden an den Rand der Straße; unter dem Arm hielt er dabei seine kleine Geige.

Der König, der noch nie ein solches Instrument gesehen hatte, ritt auf den Knaben zu, beugte sich ein wenig zu ihm nieder und fragte:

»Was hast du denn da für ein kurioses Ding unter dem Arm ?«

»Das ist eine Geige, mein König«, erwiderte Klein-Wölfchen artig. »Damit kann man Musik machen.«

»Musik ? Laß einmal hören «

Da stimmte Klein-Wölfchen seine Geige und begann sein schönstes Lied zu spielen.

Der König konnte sich nicht genug über die Kunst des Knaben wundern.

»Erbitte dir etwas von mir«, sagte er gütig, »ich will dir eine Gnade gewähren. «

Klein-Wölfchen besann sich nicht lange.

»Wenn ich mir wirklich etwas erbitten darf, mein König, dann schenkt mir eines der silbernen Hufeisen mit den goldenen Nägeln, die Euer Pferd trägt.«

Der König nickte gnädig, winkte seinem Hufschmied, der stets in seinem Gefolge war, und hieß ihn, seinem Pferd eines der silbernen Hufeisen abzunehmen und dem Knaben zu geben.

Klein-Wölfchen nahm es, steckte es sorgsam in seinen Brotsack, dankte und wollte weiterziehen. Doch der König, der an dem Knaben und seinem Spiel Gefallen gefunden hatte, wandte sein Pferd und befahl Klein-Wölfchen, ihm zu folgen.

»Du sollst bei mir bleiben«, sagte er und führte ihn mit sich in seine Burg, wo er ihm ein prächtiges Zimmer anweisen ließ. Der Schafbock aber wurde in einen Stall gestellt, wo die Schafe aus Marmorkrippen fraßen.

In kurzer Zeit hatte der König Klein-Wölfchen sehr liebgewonnen, denn dieser wußte ihn stets durch sein Spiel auf seiner kleinen Geige wieder froh und heiter zu stimmen, wenn er abends von seinen Regierungsgeschäften ermüdet war.

Eines Tages hielt der König wieder Gerichtstag. Diesmal wurden zwei Männer vor seinen Thron geführt, die sich vor ihm niederwarfen und die Erde mit der Stirne berührten. Der König gab ihnen ein Zeichen wieder aufzustehen, und fragte:

»Welche Klage habt ihr vorzubringen «

»Gnädiger König!« begann der eine. »Dieser Mann ist mir heute im Wald begegnet, als ich eben ein Schaf, das sich von meiner Herde verlaufen hatte, wieder zurücktragen wollte. Er befahl mir, ihm das Schaf zu überlassen, denn es sei das seine. Es hat ihm aber niemals ge­hört, sondern ist in meiner Herde geboren und groß geworden. Ich bitte Euch, Herr, verhelft mir zu meinem Eigentum!«

Der König sah ihn ernst und prüfend an.

»Hast du Zeugen, daß er dir das Schaf mit Gewalt genommen hat ?« »Nein«, erwiderte der Mann, »ich habe keine Zeugen, denn wir waren ganz allein im Wald.«

Da wußte der König nicht, wie er ein gerechtes Urteil fällen sollte, denn auch der andere Mann behauptete, daß es sein Schaf sei und daß ihm der, der ihn nun anklage, das Tier geraubt hätte. Doch keiner konnte Zeugen für die Wahrheit seiner Behauptung bringen.

»Kommt morgen zu dieser Stunde wieder«, sagte schließlich der König, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Doch auch am nächsten Tage wußte er noch nicht, wie er entscheiden sollte, und sagte daher:

»Kommt morgen zu dieser Stunde wieder!« Den ganzen Tag aber grübelte er über diesen Streitfall nach und war sogar am Abend noch so sehr in Gedanken versunken, daß er Klein-Wölfchen gar nicht be­achtete, der ihm wieder seine schönsten Melodien auf seiner kleinen Geige vorspielte.

Als der Knabe merkte, daß der König ihm gar nicht zuhöre, ließ er die Geige sinken, setzte sich zu Füßen seines Herrn nieder und fragte:

»Mein König, was fehlt Euch denn? Ihr seid heute so still und in Gedanken versunken, wie ich Euch noch nie sah.«

Der König legte seufzend sein Hand auf den Kopf des Knaben.

»Ich bin von zwei Männern um einen Richtspruch gebeten worden, doch ich kann nicht herausfinden, welcher von ihnen der Schuldige ist«, sagte er und erzählte Klein-Wölfchen genau, in welcher Angelegen­heit die beiden zu ihm gekommen waren.

Klein -Wölfchen sann eine Weile vor sich hin, dann hob er den Kopf zu seinem Herrn auf.

»Wenn es Euch angenehm ist, mein König, so gestattet mir, morgen zu Gericht zu kommen und den Streit zu entscheiden.« Der König gab gerne seine Erlaubnis dazu.

Am nächsten Morgen aber, als die Männer wieder vor den Thron ihres Herrn geführt wurden, erklärte Klein-Wölfchen:

»Laßt doch auch das Schaf bringen, um das ihr euch streitet.«

Und als man das Tier brachte, bedeckte er es schnell mit einem Tuch, wandte sich zu den beiden Männern um und sagte:

»Das Schaf hat, wie ich eben sah, an einem Ohr einen braunen Fleck. Wer von euch beiden kann mir sagen, oh an dem rechten oder an dem linken ?«

Da meinte der eine, der es dem anderen im Wald abgenommen hatte:

»Am linken!«

Der Ankläger aber rief:

»Das Schaf hat weder an dem rechten noch an dem linken Ohr einen braunen Fleck. Ein Ohr ist so weiß wie das andere.«

 

Da zog Klein-Wölfchen die Decke weg, und jedermann konnte sehen, daß der Ankläger die Wahrheit gesprochen hatte und so­mit der rechtmäßige Eigentümer des Tieres war. Er erhielt sein Schäf­chen wieder, der überführte Dieb aber mußte ihm zur Strafe noch fünf andere dazugeben.

Seit dieser Stunde mußte Klein-Wölfchen immer zu Füßen des Königs sitzen, wenn dieser Gerichtstag hielt, und von Tag zu Tag bewunderte der König mehr die Klugheit des Knaben und wollte ihn schließlich sogar zu seinem Ersten Minister machen. Klein-Wölfchen aber hatte wieder einmal nach seinem Heideröslein gesehen und zu seinem Kummer bemerkt, daß die Blätter zu welken begannen. Da wußte er, daß Rinka erkrankt sei, und so gut es ihm auch bei dem König ging und so sehr er ihn auch liebgewonnen hatte, ließ er sich nun nicht mehr halten. Er dankte dem König für die herrliche Zeit, die er an seinem Hof hatte ver­leben dürfen, und hat ihn herzlich um seinen Abschied. Der König war darüber sehr betrübt, doch er entließ Klein-Wölfchen mit vielen guten Segenswünschen.

Als Klein-Wölfchen am nächsten Morgen das Schloß verließ und wie­der seinen Schafbock vor den Karren spannen wollte, auf dem er in die Stadt gekommen war, fand er ein prächtiges Pferd im Hofe stehen, das mit silbernen Hufeisen mit goldenen Nägeln beschlagen war. Es war das Abschiedsgeschenk des Königs. Da holte Klein-Wölfchen noch sein silbernes Körbchen mit dem goldenen Henkel, das er sich aus dem Hufeisen hatte machen lassen, das ihm der König einst vor dem Tor ge­schenkt hatte, nahm Abschied und ritt voll Sehnsucht seiner Heimat zu.

Als er zu dem Fluß kam, fand er dieselben Schiffer vor, die ihn schon einmal über das Wasser gerudert hatten. Sie waren noch immer ärgerlich darüber, daß sie sein Rätsel nicht zu lösen vermocht hatten, und hatten Tag und Nacht gesonnen, um auch ihm eines stellen zu können, falls sie ihm noch einmal begegnen sollten. Als Klein-Wölfchen sie nun bat, ihn wieder überzusetzen, erklärten sie ihm:

»Wir wollen dich umsonst zum anderen Ufer hinüberfahren, aber diesmal mußt du uns zuerst ein Rätsel lösen. Kannst du es, so soll dich die Überfahrt nichts kosten, kannst du es aber nicht, so mußt du uns dein silbernes Körbchen zum Lohn geben.«

»Ich bin einverstanden«, erwiderte Klein-Wölfchen. »Laßt euer Rätsel hören!«

Da begann der eine:

»Es war einmal ein Schiffer, der sollte einen Korb mit Kohl, eine Ziege und einen Wolf über den Fluß fahren. Sein Kahn war aber so klein, daß er jedesmal nur eines der drei mitnehmen konnte. Er über­legte lange hin und her, wie er dies machen sollte. Denn fuhr er zuerst den Kohl hinüber, so fraß ihm inzwischen der Wolf die Ziege. Brachte er aber zuerst den Wolf an das andere Ufer, so fraß ihm inzwischen die Ziege den Kohl. Was sollte er da machen? Endlich fiel dem Mann die richtige Lösung ein, und er brachte tatsächlich die drei ohne Schaden über den Fluß. Kannst du uns nun sagen, wie er es angefangen hat?«

»Das ist nicht schwer zu erraten«, erwiderte Klein-Wölfchen, ohne lange nachzudenken. »Der Mann fuhr zuerst die Ziege hinüber, denn den Wolf konnte er ohne Gefahr allein mit dem Kohl zurücklassen. Dann holte er den Kohl, nahm aber auf der Rückfahrt die Ziege wieder mit und setzte sie ans Ufer. Nun brachte er den Wolf hinüber, den er wieder bei dem Kohl ließ, und schließlich fuhr er noch um die Ziege. Somit war alles in bester Ordnung, denn er hatte die drei über das Wasser gesetzt, ohne den geringsten Schaden erlitten zu haben.« Klein-Wölfchen lachte zufrieden und lenkte sein Pferd in das Boot. Die Schiffer aber sahen, daß Klein-Wölfchen viel klüger war als sie, ruderten ihn über den Fluß und ließen ihn ziehen, ohne einen Lohn zu verlangen. Klein­Wölfchen dankte ihnen, gab seinem Pferd die Sporen und ritt schnell davon. Der Star flog ihm voraus, um Rinka seine Ankunft anzuzeigen.

Als diese den klugen Vogel sah und hörte, daß Klein-Wölfchen auf dem Wege zu ihr sei, wurde sie vor Freude sogleich wieder gesund und froh.

Klein-Wölfchen kam drei Tage nach dem Star an und wurde von Rinka und ihrem Vater herzlich empfangen. Das Mädchen war zu einer schönen Jungfrau herangewachsen, und auch Klein-Wölfchen war während der Zeit seiner Abwesenheit zu einem stattlichen jungen Mann geworden, der seinen Namen nun schon ganz zu Unrecht trug. Der Vater aber, der in den Augen der beiden die Liebe zueinander strahlen sah, fügte ihre Hände zusammen und sprach:

»Möget ihr euer ganzes Leben lang so glücklich bleiben, wie ihr es am heutigen Tage seid.«

So lebten sie nun beisammen, Jahre um Jahre vergingen, aber das Glück blieb ihnen treu. Sie hatten die silbernen Hufeisen mit den golde­nen Nägeln verkauft und ein großes, schönes Gut für den Erlös erhalten. Das silberne Körbchen aber bewahrten sie zum Andenken auf, und als Matz, der kluge Star, altersschwach starb, ließen sie ihn ausstopfen und setzten ihn auf den Henkel des Körbchens. Und oft erzählte Rinka in späteren Jahren ihren Kindern von den Abenteuern ihres Vaters und von dessen treuem gefiedertem Freund Matz.

 

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